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Wolfgang Hilbig
Palimpsest
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Die Klage? – Sie liegt still über den Dächern im August –
wir haben sie nicht vernommen sie hat uns vernommen.
Lautlos haben sich die Tage geordnet: sie schwimmen
weit hinaus der Sommer ist entlassen aus der Macht.
Ein Sprung ein unsichtbarer Haarriss im Azur
hoch über uns: mißtönend Glas
Ein Sicheln von Zikaden
hoch über uns im verschleuderten Licht ...
vorbei das Jahrhundert mehr als hundert Jahre alt –
das Jahrhundert der Männer: am Ende verkommen
zu Neurasthenie. Der Rubikon ist überschritten!
Und bald gehört die Stadt den Stimmen unbekannter Sterne –
Der Hafen glimmt: ein Licht zur Ausfahrt angeschirrt ...
Ausfahrt unentwegt wenn das Jahr zu enden anfängt
Bei Tag und Nacht herrscht aufgeräumte Fahrt von Farben
Ausfahrt von Sonnen still über den Dächern im August
Sommers Ausfahrt all jene erbleichenden Bläuen hinab
Und über die maßlosen Wasserfälle der Horizonte hinab –
o diese Gleitbahnen der Zeit diese unsichtbaren Ränder
hoch über uns in der großen Lichtvergeudung vor Abend –
und wir allein sind festgemacht in unentwegter Flaute:
wir haben die Klage den sterblichen Göttern überlassen.
Hier ist der Hafen ohne Hoffnung auf die Wiederkehr der Schiffe –
August vorbei
o noch ein letzter Tag vor dem September
der eintrifft wie ein Abend in wüster Verstimmung
dessen Sonne noch einmal die Zwietracht von Anfängen sät –
Anfänge die in schneller Flucht durch alle Flure eilen
ein Ende suchend in der Wirrsal von Treppenhäusern ohne Mitte
vor dem Rotbraun von Brandmauern aufgetakelt mit Schrott
wo wir entmannt sind festgemacht im Staub der Etagen
und es tritt der Mond auf oben am Rand des Jahrhunderts
konturlos glimmend
ein optischer Zufall vor Nachtbeginn –
und nun hebt ein toter Baum seine Kandelaber herauf
und zündet sich an: die schwarze Explosion des September
unaufhörlich in den Hinterhöfen tief wie Brunnen ohne Widerhall.
Ach welch düsteres Geäderzeichen für das Jahrhundert –
dieser Gespensterbaum dieser entgeisterte Illuminator
der jetzt die Lichter der Sterne anbrennt vielarmig verzweigt
dem Ende des Sommers zu leuchten dem Ende der mannhaften Fahrt.
Und er schreibt seine unlesbaren Runen in den leeren Azur ...
Umschrift des Sommers
Sie bedeckt den Kurs der Männer
Löst auf der Sonne Ausgeburt entmachtet Ziel und Klage ...
Wir haben sie den Zikaden überlassen dem irren Abhub ihres Lieds –
Der Rubikon ist überschritten.
Dunstküste. Lautlos ziehn die Tage im Geleit.
Sie schwinden weit ins Offne mit dem Strom. Am Abend
Das flüchtige Gelichter der Wasser. Davor ein Baum im Rauch
Im kurzen Atem der Zikaden die sich widerrufen.
Und dann die Nacht in der wir nicht mehr sichtbar sind.
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2005
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1997 bis 2007 herausgegeben von Renatus Deckert und Birger Dölling · ISSN 1434-8306 © Lose Blätter und Autoren · Letzte Änderung: 26. Oktober 2017
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