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Ilse Aichinger
»Daran glauben müssen« (Günter Eich)
  Heft 31
Foto: Paustian
 
»Die größere Hoffnung«, mein erstes Buch, entstand aus einem Debakel. Es stellte sich schon nach dem ersten medizinischen Rigorosum heraus, dass meine manuellen Fähigkeiten für die medizinische Praxis nicht reichten, und ich brach das Studium ab. Es ging mir wie dem Pfarrer von St. Gilgen, einem der wenigen guten Pfarrer, die mir über den Weg liefen; auf die Frage, weshalb er Pfarrer geworden sei, gab er zur Antwort: »Weil ich zu sonst nichts anderem fähig bin.« Aus demselben Grund begann ich zu schreiben. Auf »losen Blättern« und ohne finanzielle oder sonstige Perspektive. E. M. Cioran spricht von der »Unannehmlichkeit, geboren zu sein«, dem folgen »Syllogismen der Bitterkeit«, und zuletzt heißt es »Gevierteilt«. Ob und wie oft er seine eigenen Aufzeichnungen wieder las, könnte man erfahren oder auch nicht. Ich jedenfalls lese lieber keine eigene Zeile wieder, wenn mich nichts dazu zwingt.
   Sie fragen nach dem Debüt: In den ersten fünf Jahren nach dem Erscheinen der »Größeren Hoffnung« wurden – soweit ich mich erinnere – drei oder in den ersten drei Jahren fünf Exemplare verkauft. Meine Mutter arbeitete als Ärztin in einer Anstalt für Unheilbare, Alte, Abgeschobene. Dort schrieb ich im Dienstzimmer. Zuvor, da die Gemeinde Wien weder Wohnung, Praxis noch Stellung (meine Mutter war vorher Schulärztin) zurückgab, in der Küche einer armseligen Wohnung in einem äußeren Bezirk, die Eltern einer Bekannten hatten uns aufgenommen. In ihrer Küche begann ich zu schreiben. Der damalige S. Fischer Verlag – das absolute Gegenteil des heutigen – drängte. Sie gaben mir nicht länger als fünf Monate Zeit, und das monatliche Salär reichte nicht.
   Mein persönlicher Blick gilt längst nicht mehr dem, was ich geschrieben habe (es schien mir nie besonders wichtig und bis heute behalte ich, wenn ich den literarischen Zirkus betrachte, Recht damit), wichtig scheinen mir die Umstände.
   Heute erscheinen meine Bücher in der Edition Korrespondenzen in Wien und im S. Fischer Verlag in Frankfurt, ich hatte Glück, wie es heißt, aber nichts brachte mir das Glücksgefühl der bedrohtesten Zeit zurück, in der alles noch offen war und die Wiener Gestapo noch funktionierte, besser als alle anderen. Heute habe ich das Glück, Freunde zu haben, in, aber nicht aus Wien. Die Ausgabe der Bücher in beiden Verlagen ist geglückt, in der Edition Korrespondenzen besorgte sie Franz Hammerbacher, im S. Fischer Verlag Richard Reichensperger, der im April tödlich verunglückt ist. Er hat mich das halbe Jahrhundert vergessen lassen, das zwischen uns lag und auf das ich immer wieder hingewiesen werde.
   Ich könnte noch schreiben, weil ich eben nichts anderes kann, aber es genügt mir, so lange als möglich nicht zu schreiben – der schwierigere und eigentliche Teil der Arbeit. Denn es ist sicher nicht das Vergehen von Zeit, sondern das der eigenen Person, auf das es ankommt. »Was ich weiß, geht mich nichts an.« (Günter Eich) Und was ich geschrieben habe, geht mich nach einem halben oder Vierteljahrhundert noch weniger an. Was bleibt, sind diejenigen, die daran glauben mussten, und die vielen jungen, die noch heute »daran glauben«.
 
Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung erschien 1948 im Bermann-Fischer Verlag in Amsterdam und Wien. Das Zitat im Titel stellte Günter Eich seinem Hörspiel Die Brandung vor Setúbal als Motto voran.
 
 
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1997 bis 2007 herausgegeben von Renatus Deckert und Birger Dölling · ISSN 1434-8306
© Lose Blätter und Autoren · Letzte Änderung: 26. Oktober 2017