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Birger Dölling
Willkommen in der Wirklichkeit
Der Traum vom friedlichen Menschen ist ausgeträumt
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Im Jahre zehn nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zeigt das vereinte Deutschland einen eigentümlichen Aktionismus. Wer glaubte, die jahrzehntelange außenpolitische Zurückhaltung der ehemaligen Großmacht habe auf einem Gewinn an Verständnis und Zivilisation beruht, sieht sich getäuscht. Die hemmenden Auswirkungen von Teilung und Besatzung scheinen es gewesen zu sein, die Deutschland im Zaume hielten. Befreit von ihnen spielt es seine neue Rolle in der Welt – und ist bei seiner Interessenpolitik nicht wenig selbstbewußt.
| Der Krieg um das Kosovo und das beinahe offene Zerwürfnis mit Rußland ist der bisherige Höhepunkt in einer jahrelangen Entwicklung. Dabei schien alles so harmlos anzufangen: die friedliche Revolution 1989, die deutsche Einheit, die Aussöhnung des Westens mit der Sowjetunion. Zwar drohte Boris Jelzin schon 1991 mit dem dritten Weltkrieg, um das Engagement der USA in der Golfregion zu verhindern, aber die ost-westlichen Beziehungen schien diese Drohung kaum dauerhaft zu belasten. Auch die Konflikte in Jugoslawien wurden nicht zum Zankapfel, solange der Einfluß Rußlands über die UNO gesichert war.
| Wie anders jetzt. Kaum jemand hätte wohl geglaubt, wie tief die alten Feindbilder sitzen. Der Kampf der Systeme mag vorbei sein, aber um welchen Preis: zwei kapitalistische Lager stehen sich jetzt gegenüber.
| Nicht enden wollen die westlichen Beschwörungen von Einvernehmen und Harmonie zwischen den Supermächten. Soviel Zuneigung muß auffällig sein, zumal sie von russischer Seite kaum auf offizielle Gegenliebe stößt. Und wirklich scheint es, als habe sich der tiefe Spalt mitten in Europa, den einst der eiserne Vorhang zementierte, zwar ostwärts verschoben, aber nie wirklich geschlossen. Der Glaube an Annäherung und Verständigung, der das letzte Jahrzehnt beherrschte, stellt sich als fataler Irrglaube heraus.
| Aber kaum jemand schien vor diesem Irrtum gefeit. Überblickt man die Berichterstattung der deutschen Presse von den ersten Tagen des Krieges gegen Jugoslawien bis zu seinem Ende, so fällt auf, wie sehr sich die Gewichte verschoben haben. Wie eine Seifenblase mußte der Traum von der westlich-russischen Partnerschaft zerplatzen, aber die Verleugnung des Unleugbaren war es wohl, die den Kommentatoren der ersten Wochen so milde Worte gegen Rußland eingab. Gewarnt wurde vor einer Fehleinschätzung Boris Jelzins, gewarnt davor, seine Taktik als bloße russische Interessenwahrnehmung mißzuverstehen, gefordert vielmehr, man möge das Menschliche und Weltbürgerliche in seinem Tun erkennen. Die Einbindung Rußlands wurde gefordert, in der Art freilich, daß man glaubte, die Supermacht mit einer Vermittlertätigkeit zufriedenstellen zu können. Wie groß die Überraschung, als Boris Jelzin sich damit nicht zufriedengab. »Zar Boris ist kein Friedensfürst« titelte Thomas Avenarius in der Süddeutschen Zeitung, als russische Truppen den Flughafen von Priština besetzten. Rätselhaft, wie man sich vorher selbst so hatte verblenden können.
| Wer die russischen Medien zu dieser Zeit verfolgte, der gewann schon früh den Eindruck, daß die positive Sicht der letzten Jahre auf den Westen nur vorübergehender Natur gewesen sein konnte. Eine Ahnung mußte ihn beschleichen, daß die alte Zeit nicht spurlos an den Menschen vorübergegangen sein konnte. Die alten Feindbilder – Amerika, das jetzt vereinte Deutschland – wurden neu beschworen und gleichzeitig betont, daß die kleinen Leute keinesfalls so dächten wie ihre militanten Führer. Woher auch diese Vorstellung rühren mag – ob von der eigenen Erfahrung der russischen Strukturen oder von dem alten, tief eingeprägten Imperialismusbild, daß den Arbeiter als das Opfer einer machtgierigen Clique sieht – richtig war sie kaum.
| Zumindest im Westen Deutschlands war die Stimmung nicht ablehnend. Umfragen bestätigten das Vertrauen der Bevölkerung in die Aktionen der Regierung und das Anerkenntnis ihrer Notwendigkeit.
| Anders freilich im Osten. Das zweite große Rätsel, daß dieser Krieg aufgibt, ist ein zutiefst deutsch-deutsches. Die Mehrheit der Ostdeutschen stand dem Krieg zweifelnd oder ablehnend gegenüber, und zugleich wohl auch der mit ihm notwendig einhergehenden Konfrontation mit Rußland. Wie ist das zu erklären? Hat das ewig leere Gerede von Frieden und Völkerfreundschaft am Ende doch eine zumindest instinktive Ablehnung gegen kriegerische Auseinandersetzungen bewirkt? Ist es das andere Verhältnis der Ostdeutschen zur Sowjetunion? Grund, die »Freunde«, wie sie mancherorts weniger aus Überzeugung denn aus Gewohnheit genannt wurden, zu fürchten, hatten sie in den letzten Jahren der DDR kaum – ebensowenig wie die Westdeutschen Amerika. Welche Beliebigkeit der Feindbilder.
| Möglicherweise ist es auch die Abneigung gegen die neue Vorstellung, plötzlich auf der anderen Seite derselben Konfrontation zu stehen. Die deutsche Einheit veränderte nicht nur das private Leben der Ostdeutschen, sie rückte sie auch ein gutes Stück nach Westeuropa. Man kann es nicht übelnehmen, wenn vielen ein neutraler Standpunkt lieber gewesen wäre. Vielleicht ist dieser Wunsch ein Ausdruck der idyllischen Einschätzung der Weltpolitik, die die schematisierende und simplifizierende politische Bildung und Geschichtsschreibung in der DDR bewirkt hat.
| Kaum zu verwundern mag unter diesen Umständen, daß die immer noch beinahe rein ostdeutsche PDS als einzige Partei im Deutschen Bundestag ihre Zustimmung zum Einsatz der Bundeswehr im Kosovo verweigert hat. Mag sie sich damit in der Tradition Karl Liebknechts gesonnt haben, der 1914 mit anderen in der SPD gegen die Bewilligung der Kriegskredite opponierte, mag sie tatsächlich eine Anzahl überzeugter Pazifisten in sich vereinigen – eine wirksame Basis für den »Krieg gegen den Krieg« vermochte sie zu keinem Zeitpunkt abzugeben. Gar zu einseitig war das Bild, das sie von der Wirklichkeit zeichnete; nur übertroffen noch von den Protesten anderer linker Gruppen, die sich in der Anprangerung des imperialistischen Militarismus erschöpften. Die geringe Zahl der klugen Stimmen, die sich hier und da regten, zeigte schmerzhaft, daß eine wirkungsvolle Opposition gegen den Krieg – abseits jener, die »eine Meinung, aber keine Ahnung haben« – nur ansatzweise existiert. Sie kann freilich auch nicht Aufgabe einer einzelnen politischen Gruppierung oder Richtung sein. Der friedliche Gedanke verlangt nach Aufnahme in den gesellschaftlichen Grundkonsens einer zivilisierten Gesellschaft. Die Möglichkeit hierzu aber scheint ferner denn je.
| Zweifelhaft ist auch, ob es sie unter den gegenwärtigen Umständen überhaupt je geben kann. Daß nicht nur absolutistische oder totalitäre Staaten Krieg führen, wie man zunächst vermuten könnte, ist kein Widersinn. Wer den Willen des Despoten durch den der Volksvertretung ersetzt, befreit ihn nicht von eigenen Interessen.
| Sobald der Kosovo-Krieg als Mittel der Wohlstandssicherung für Mitteleuropa erscheint, als wirtschaftlich geboten also, mag man jede auf demokratische Legitimierung, auf Wiederwahl angewiesene Regierung als gezwungen betrachten, ihn geführt zu haben. Das Volk freilich wählt seine Regierung, damit es ihm gutgeht. Es kann seine Verantwortung nicht von sich weisen.
| Es sei dahingestellt, ob die Rüstungsindustrie die entscheidende wirtschaftliche Determinante dieses Krieges war. Wichtiger scheint die Flüchtlingsproblematik. Nicht umsonst wird eine schnelle »Rückführung« der Flüchtlinge und auch der ca. 100.000 Kosovo-Albaner, die schon vor dem Krieg nach Deutschland geflohen waren, propagiert. Das so verlogen humanistische Schlagwort vom »Vorrang für die Hilfe vor Ort« muß jedem noch in den Ohren klingen.
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Zehn Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist Deutschland in der Wirklichkeit angekommen. Von manchem Traum mußte man sich verabschieden in diesem Jahrzehnt. Soll dieser Traum, der Traum vom friedlichen Menschen, der nächste sein?
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