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Was ist Philosophie?
Renatus Deckert im Gespräch mit
Volker Gerhardt
  Heft 5
 
Von Marx stammt das Wort: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Eine streitbare These ...
   Heraklit hatte recht; aber Parmenides auch: Alles ist in unablässiger Bewegung; aber was wir denken, steht fest – sofern wir es denken. Denken ist die einzige Funktion des Lebens, die überhaupt etwas als Identisches – und insofern Bleibendes – feststellen kann. Und nur weil es dies kann, können wir die unablässige Veränderung von allem in allem mit eigenen Zielen (also mit etwas für den Augenblick des Wollens Bleibenden) bestehen. Nur weil wir im Denken etwas festhalten können, haben wir die Chance, uns selbst als Person oder als Mensch zu begreifen. Und nur sofern wir uns als dieselben begreifen, können wir etwas in eigener Absicht verändern. Die im Foyer unserer Universität angeschlagene These ist der faustische Spruch eines jungen Mannes, der die Philosophie dazu nutzen wollte, das Elend in der Welt zu beseitigen. Insofern ist mir der Spruch sehr sympathisch. Aber da ihn eine Partei angeschlagen hat, die alles hat erstarren lassen, sogar noch die Philosophie, ist er mir ein Greuel. Und natürlich ist der Spruch, so wie er da zu lesen ist, einfach falsch: Die Philosophen haben niemals bloß interpretiert, sie haben immer auch verändert. Es kommt auch niemals bloß auf die Veränderung an. Gerade weil wir uns als Menschen begreifen und Menschen bleiben wollen, kommt es häufig genug auch darauf an, etwas zu bewahren.
 
Schließt also Philosophie neben dem Wort auch die Tat ein?
   In gewisser Weise ist jedes Denken ein Tun. Schon wenn ich auf eine dringende Aufforderung, mich einer Demonstration anzuschließen, erkläre, ich müsse erst darüber nachdenken, handle ich. In manchen politischen Systemen war und ist das schon ein Verhaftungsgrund. Zugleich aber kann man das Nachdenken als ein »Probehandeln« ansehen, das dem Menschen erlaubt, vor dem aktiven Eingriff in die Wirklichkeit verschiedene Handlungsmöglichkeiten durchzuspielen. So gesehen handelt man noch nicht, solange man denkt. Aber man denkt in solchen Fällen, um zu handeln! Daraus folgt, daß die Philosophie unter allen Umständen auf das Tun, auf die Bewältigung des Lebens bezogen ist. Ihre Besonderheit hat sie darin, daß sie sich möglichst im Ganzen des Daseins klar zu werden versucht, unter welchen Bedingungen und mit welchen Zielen überhaupt etwas getan wird und getan werden kann. Sie möchte vor allem festhalten, wer da eigentlich handelt. Also fragt sie letztlich immer nach dem Menschen. Genauer: In der Philosophie fragt der Mensch – soweit es nur irgend geht: nach sich selbst. Als Philosoph ist er immer auch Metaphysiker und Anthropologe.
 
Wir sprechen von der Philosophie als von einem Selbstdenken. Und doch findet das Philosophieren vor allem im Gespräch statt. Schließen Selbstdenken und der Dialog nicht einander aus?
   Als Sokrates durch einen Orakelspruch Apollons genötigt wird, sich selbst genauer zu prüfen, geht er zu anderen – zu Handwerkern, Seefahrern und Politikern -, um im Vergleich mit ihnen in Erfahrung zu bringen, wer er selber ist. Und als er von Alkibiades gefragt wird, wie es denn überhaupt möglich ist, die eigene Seele zu erkennen, gibt er zur Antwort, man müsse in das Auge des anderen sehen. Das gleiche gilt für das Selbstdenken: Es gelingt nur im Bewußtsein unserer ursprünglichen Ausrichtung auf die anderen unserer selbst. Folglich ist der Dialog, das Gespräch, die Auseinandersetzung mit den anderen der Königsweg der Philosophie. Das schließt natürlich nicht aus, daß man die Auseinandersetzung mit anderen auch in Gedanken führt. Spinoza, Kant, Hegel oder Nietzsche haben auf diese Weise Großes geleistet. Gleichwohl ist die Welt, die sie in Gedanken gefaßt haben, wesentlich Mitwelt, ein sozialer Kosmos, den man glaubt verstehen zu können, als sei er der Gedanke eines anderen.
 
In den Dialogen von Platon zeigt sich, daß die vollendete Philosophie nur in der Literatur möglich ist. Was heißt das für uns? Ist denn Philosophie nichts anderes als ein Gedankenballett?
   Wenn ich für den Primat der Praxis plädiere, schließe ich aus, daß die Philosophie ein bloßes »Gedankenballett« ist. Das wiederum schließt nicht aus, daß Philosophieren Freude macht, weil sie Denken ist und eben darin als eine Kunst eigener Art gelten kann. Zunächst aber muß man betonen, daß die Philosophie eine Wissenschaft ist. Sie hat schon bei den Vorsokratikern als Wissenschaft begonnen und ist von Anfang an in Verbindung mit Mathematik, Physik und Geschichte betrieben worden. Sie hat im Laufe ihrer über zweitausendjährigen Geschichte zahlreiche Einzeldisziplinen aus sich entlassen, ohne dadurch den Charakter der Wissenschaft zu verlieren. Sie kann nur dann auf seriöse Aufmerksamkeit rechnen, wenn sie sich auf den Kenntnisstand ihrer Zeit bezieht. Davon rückt auch Platon nicht ab. Sein dialogisches Philosophieren führt sogar zu einer Verschärfung der methodologischen Ansprüche: Er besteht – vor allem gegenüber den wohlgesetzten Reden der Sophisten – darauf, daß Punkt für Punkt argumentiert wird. Aber gerade weil Platon die wissenschaftlichen Ansprüche an die Philosophie so hoch gesteckt hat wie kein anderer vor ihm (und wohl auch keiner nach ihm), müssen wir uns fragen, was es heißt, daß er sich nicht auf die bloße Wiedergabe von Kenntnissen und Argumenten beschränkt. Ich glaube, daß er durch die szenische Darstellung konkreter Gesprächs- und Handlungssituationen bewußtmachen will, daß die Philosophie ihren Ort im Leben hat. Sie bedeutet nur etwas, sofern sie Individuen etwas bedeutet. Folglich kann sie von den individuellen Handlungslagen nicht abgelöst werden. Diese Einsicht kann man jemandem aber nur in einer konkreten Situation vermitteln, so daß er sie an sich selbst gewinnt. Wenn man dazu keine Gelegenheit hat, kann man diese Einsicht natürlich auch so abstrakt for mulieren, wie ich es gerade tue. Man kann aber auch versuchen, die lebensentscheidende Situation des Denkens zu simulieren, und sie in literarischer Gestaltung anschaulich machen. Das ist Platons Verfahren. Er stellt uns in sinnlicher Klarheit vor Augen, was der Gedanke allein nicht fassen kann. Hier arbeiten Literatur und Philosophie Hand in Hand. Und sie werden es immer tun müssen, wo es um die individuelle Wirksamkeit des Gedankens geht.
 
In Platon finden der Dichter und der Philosoph zueinander. Wo beginnt Literatur zu Philosophie zu werden?
   Die Frage kann ich nicht eindeutig beantworten. Nehmen wir die Schriften Ciceros, die Bekenntnisse des Augustinus, die Predigten Meister Eckharts, die Traktate des Erasmus von Rotterdam, Montaignes Essays oder die Aphorismen La Rochefoucaulds, Lichtenbergs oder Nietzsches: Wo soll da die Grenze zwischen Literatur und Philosophie verlaufen? Oder nehmen wir einen der bedeutendsten philosophischen Denker des 20. Jahrhunderts, nämlich Thomas Mann. Wollen wir sein Werk im Ernst der bloßen Fiktion zuschlagen und ihm den Erkenntnisanspruch absprechen? Wo wird in unserer Epoche leidenschaftlicher nach der Wahrheit über den Menschen und seine Zeit gesucht als im Werk dieses Dichters? Damit aber habe ich immerhin eine Teilantwort auf Ihre Frage gegeben: Die Philosophie beginnt immer dort, wo nach Erkenntnis gesucht wird, nach Selbst-in-Welterkenntnis. Das meint das alte und unvermindert gültige Ideal der Weisheit. Das ist seit der Antike ein individuelles Ziel. Auch im Interesse an der individuellen Einsicht ist die Philosophie dort am besten, wo sie nicht aufhört, Literatur zu sein.
 
Und wo beginnt ein Gedanke Philosophie zu werden?
   Eben dort, wo ernsthaft begründet wird. Der Philosoph muß Gründe (und damit Argumente) für das nennen können, was er an Einsichten vertritt. Und zur Begründung braucht er nur die vielgeschmähte Vernunft. Und zwar nicht irgendeine, sondern seine eigene Vernunft. Wenn Sie mir jetzt entgegenhalten, eine andere Vernunft gibt es sowieso nicht, gebe ich Ihnen natürlich recht.
 
Also mache ich den Einwand erst gar nicht, sondern frage nach etwas ganz anderem: Wie verhält sich die Philosophie zur Utopie?
   Alles Denken oszilliert zwischen den Erfahrungen, die wir gemacht haben, den Bedürfnissen, die wir haben, und den Erwartungen auf Kommendes. Also sind wir notwendig auf Künftiges ausgerichtet. Ohne Zukunft könnten wir noch nicht einmal die Gegenwart erfassen, geschweige denn uns selbst. Wir haben umso mehr von uns, je mehr Zukunft wir uns offenhalten. Und wenn wir die Bereitschaft, auch unter schwierigen Bedingungen tatkräftig, beherzt und einfallsreich in die Zukunft zu gehen, utopisch nennen wollen, würde ich das Attribut nur zu gern auch für mich selbst in Anspruch nehmen. Ich neige allerdings dazu, eben diese Einstellung realistisch zu nennen. Denn wir brauchen die Visionen, Hoffnungen und Träume vor allem, um mit den Widrigkeiten der Gegenwart fertig zu werden. Dies gilt auch für jene Bereiche des Denkens, in denen wir ohne Entwürfe für die Zukunft gar nicht auskommen, also für die Politik und für alle anderen Aufgaben der Kultur. Man darf sich den für die Erkenntnis so unverzichtbaren Anspruch auf Wirklichkeit und Wirksamkeit nicht von jenen streitig machen lassen, die denkfaul und phantasielos sind. Nach meinem Verständnis gehören Intellektualität und Realismus, wache Geistigkeit und Wirklichkeitssinn zusammen.
 
Kann der, der an Gott glaubt, ein guter Philosoph sein?
   Warum nicht?
 
Ist da ein Widerspruch zwischen dem Glauben und dem Verstand?
   Gott ist der Begriff für den Grund, aus dem wir das Ganze, in dem wir uns begreifen, zu verstehen suchen. Der Begriff Gottes bringt die Erwartung zum Ausdruck, daß uns die Welt entspricht. So wie wir von uns verlangen, daß unsere Handlungen einen Sinn haben, so erwarten wir es auch von der Welt. Schon dieses Erwartung stabilisiert unseren eigenen Handlungssinn. Deshalb sehe ich auch keinen Widerspruch zwischen Glauben und Vernunft. Im Gegenteil: Die Vernunft gibt uns Begriffe von großen Zusammenhängen, zu denen wir selbst gehören und die uns selbst etwas bedeuten. Das sind Be griffe wie Gegenwart oder Zukunft, wie Wirklichkeit, Welt oder Leben. Die Vernunft macht uns zugleich aber auch klar, daß wir mit diesen Begriffen nichts Gegenständliches vor uns haben. Dennoch halten wir sie nicht einfach für Hirngespinste. Wir unterstellen ihnen eine praktische Bedeutung; und sobald wir mit diesen praktisch wirksamen Unterstellungen einen unser Leben leitenden Sinn verbinden, glauben wir an eine Vernunft, die unsere eigene übersteigt. Dann glauben wir an »Gott« – oder wie immer Sie es nennen wollen.
 
Brauchen wir Erkenntnis?
   Wenn ich Ihre Frage verneinen würde, würde ich den Sinn Ihrer Frage bestreiten. Woher wollte ich das Recht dazu nehmen? Sie wollen etwas wissen. Also wollen Sie auch etwas erkennen. Wir können uns selbst ohne den Anspruch auf Erkenntnis gar nicht denken. Und so wie wir sind und sein möchten, können wir unser Leben ohne Erkenntnis, ohne Bewußtsein, Neugierde gar nicht führen.
 
Ist Freiheit möglich? Oder ist sie ein utopischer Wunschtraum?
   Allein die Tatsache, daß ich Ihnen antworte, ist ein hinreichender Beleg dafür, daß es Freiheit gibt. Niemand zwingt mich dazu, es zu tun. Ich habe auch nicht den Eindruck, daß Sie jetzt genötigt werden, Ihre Frage zu stellen. Also gibt es Freiheit nicht nur bei mir, sondern auch bei Ihnen. Freiheit ist die Fähigkeit, etwas von sich aus anzufangen. Das Von-vorn-Anfangen ist die Freiheit. Ohne sie könnten wir uns noch nicht einmal selbst verstehen, geschweige denn die Handlung von irgend jemand anderem. Sie sehen, daß die Freiheit keine Utopie ist, sondern eine unerläßliche Voraussetzung, die Gegenwart zu verstehen. Daß uns ihr Verständnis dennoch so viele Schwierigkeiten macht, hängt damit zusammen, daß sie immer wieder in einen Gegensatz zur Naturnotwendigkeit gebracht worden ist. Aber darin liegt ein Mißverständnis. Das kann man allein daran sehen, daß wir das feste Vertrauen in die Naturnotwendigkeit brauchen, um überhaupt frei handeln zu können. Die Freiheit, die wir beide in unserem Gespräch realisieren, beruht auf der unverbrüchlichen Geltung der physikalischen Gesetze gerade auch in dieser halben Stunde unseres Gesprächs.
 
Und wie ist es mit der Wahrheit?
   Nicht viel anders als mit der Freiheit. Wir brauchen sie und nehmen sie auch ganz selbstverständlich in Anspruch. Stellen Sie sich vor, es ginge in unserem Gespräch »in Wahrheit« gar nicht um die Philosophie. Das Gespräch hätte einen völlig anderen Charakter. Vielleicht wäre es dann viel interessanter. Aber es wäre ein anderes Gespräch. Wenn wir aber kein anderes, sondern dieses Gespräch führen wollen, dann ist es der gemeinsame Bezug auf dieselbe Sache, der uns eben dieses und kein anderes Gespräch zu führen erlaubt. Ich habe am Anfang auf die eigentümliche Leistung der Begriffe aufmerksam gemacht. An unserem Gespräch und seinem Gegenstand haben Sie ein Beispiel dafür, worin die identitätsstiftende Leistung der Begriffe besteht: Die Begriffe machen es möglich, daß wir uns im fortlaufenden Wechsel der Ereignisse auf ein und dieselbe Sache – auf unser Gespräch, auf die Philosophie – beziehen. Für die Fliege, die uns bei unserem Gespräch stört, gibt es weder das Gespräch noch die Philosophie. Aber wir führen es. Das ist wahr. So einfach ist das mit der Wahrheit. Und es ist das seit Nietzsche immer wieder von neuem inszenierte Trauerspiel der neueren Philosophiegeschichte, daß man erst die Wahrheit als Übereinstimmung der Begriffe mit irgendeiner ohnehin nicht existierenden metaphysischen Realität mißversteht, um anschließend zu behaupten, die Wahrheit sei eine Illusion.
 
Wer Philosophie studiert, beschäftigt sich mit den großen Denkern vergangener Zeiten. Geben die Schriften dieser Philosophen Antworten auf die Fragen, die die Gegenwart uns stellt?
   Ich könnte mich in meinen Lehrveranstaltungen nicht so sehr um die Interpretation antiker oder moderner Autoren bemühen, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, daß wir dort Antworten auf unsere eigenen Fragen finden. Nur liegen diese Antworten nicht einfach offen zutage. Wir müssen tatsächlich mit unseren eigenen Problemen an die Autoren herangehen. Und wenn wir dies tun, dann ist es verblüffend, wie aktuell gerade antike Texte sind und wie nahe sie Kant, Nietzsche oder Wittgenstein stehen. Von Thomas Mann ganz zu schweigen.
 
Biographische Notiz. Volker Gerhardt, geboren 1944 in Guben, aufgewachsen in Hagen. Studium der Philosophie, Psychologie und Rechtswissenschaft in Frankfurt am Main und Münster. Von 1985 an Professor für Philosophie in Münster. Lehrte in Zürich, in Köln und in Halle. Seit Oktober 1992 hat er den Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Im Mai 2001 wurde Gerhardt in den Nationalen Ethikrat berufen. Publikationen u. a. zu Kant und Nietzsche. Zuletzt erschien »Individualität. Das Element der Welt« bei C. H. Beck (2000).
 
 

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1997 bis 2007 herausgegeben von Renatus Deckert und Birger Dölling · ISSN 1434-8306
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