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Brigitte Oleschinski
Frieren, und weiterziehen –
  Heft 31
Foto: Paustian
 
... das Geschirrtuch – der englische Titel – die achtziger Jahre ... – unmöglich doch, worauf ich mich da eingelassen habe: einen Rückblick auf Mental Heat Control, fünfzehn Jahre später ... – Rückblick worauf eigentlich? Die Anekdoten der Entstehungs- und Publikationsgeschichte? Die Gedichte? Den Bogen, der sich von Mental Heat Control zur Geisterströmung spannt? Wenn es denn ein Bogen ist, nicht ein Bruch oder eine Art Paradigmenwechsel, wie manche Kritiker derzeit finden –
 
... immer im Aufbruch, wie losgerissen, wie auf der Flucht, und hinter mir löst sich schon alles auf, alle paar Jahre versinken in meinem Gedächtnis ganze Kontinente von Lebens- und Denkzusammenhängen – die unendlich ferne rheinisch-katholische Kindheit in den Sechzigern, die utopische Politik der Siebziger, die Grabungen im Trauma-Gelände der Nazi-Geschichte in den Achtzigern ... – irgendwann kann ich mich kaum noch erinnern, weder an die Themen und Topoi dieser Zeiten noch an mich selbst darin, diese jüngeren Ichs, diese jüngeren Ich-Körper – mein Jetzt-Ich bringt sich mit ihnen nicht mehr zusammen, obwohl es die lebensweltlichen Konstanten gibt, Beziehungen, die Jahrzehnte überdauern, oder Schichten von Papieren und Notizen, die sich lesen wie zusammengehörig, zusammengehörig in einer Fremden: tatsächlich, auch dieses Losgerissene, immer wieder Aufbrechende erscheint über die Jahrzehnte eher wie eine Konstante; nur mein Selbstgefühl nimmt es ganz anders wahr ... –
 
... was jetzt in mir untergeht (keine unbefangene Metapher, an der Jahreswende 2004/5 ...) – was gerade untergeht oder sich wieder verwandelt, ist wahrscheinlich das digitale Denken der Neunziger, der Millenniums­tremor – diese Idee, daß sich alles in winzigste Bestandteile zerlegen und synthetisieren läßt, so, wie es Wissenschaft und Ökonomie scheinbar mit der gesamten Lebenswirklichkeit tun – eine Wahrnehmungsweise, aus der sich für das Denken der Gedichte ein schier unendlicher Möglichkeitsraum eröffnet hat, chaotisch und verzweifelt oft, in meinem Fall, weil mir das Spielerische abgeht; aber auch frei von den realen Beschränkungen, die sich aus der konkreten Auseinandersetzung mit all den Folgen und Verantwortlichkeiten ergeben, wie sie dieser weltumspannende »Digitalisierungsprozeß« in unübersehbarer Fülle und Verschränkung produziert –
 
... so freigesetzt fühlten sich die Gedichte aus Mental Heat Control noch nicht, das spüre ich, wenn ich sie heute wiederlese – die Welt, in der sie entstanden sind, war fester gefügt in allen ihren Selbstverständlichkeiten, auch sehr viel enger, geographisch, historisch, schon die Distanzen zwischen dem Rheinland und Westberlin und von dort aus, zögernd, in den noch unerschütterten Osten, der auch ein Familien-Osten war und ein Geschichtsfeld – schon diese Distanz erschien groß und erzeugte die tiefen Brüche und Reibungsfunken, die ein Gedicht entzünden – einzelne Gedichte, ich könnte auch sagen: vereinzelte Gedichte, die noch nicht so offen miteinander sprechen wie später, noch nicht das Gefühl haben, daß sie alle Teil desselben Denkprozesses sind ... –
 
... im Rückblick erinnere ich mich, daß mich damals der Klappentext irritierte (so, wie ich vom Produktionsprozeß des Buches keine Ahnung hatte und von jedem einzelnen Schritt überrascht wurde, mal positiv – was das Format und die Gestaltung anging –, mal negativ): die Behauptung also, es handele sich hier um die »prägenden Erfahrungen eines noch jungen Lebens« – ich war Mitte dreißig, kam in meinem Beruf leicht auf sechzig oder mehr Arbeitsstunden in der Woche (einem Beruf, in dem sich aus der Auswertung von Hinrichtungsakten eine akademische Intrige oder aus dem Umgang mit traumatisierten KZ-Überlebenden ein politisches Ränkespiel entwickeln konnte, ganz normaler westdeutscher Berufsalltag eben ...): ich fühlte mich nicht »jung« – aber vielleicht war ich es als Autorin tatsächlich; vielleicht waren die Gedichte, eben in ihrer Vereinzelung und Abspaltung von diesem normalen Alltag, tatsächlich »jung« (anfangs noch wie hinter dem eigenen Rücken geschrieben, später in Lücken und freien Stunden, in denen ich, unbegreiflich (?) zaghaft, so etwas wie einer Schreibidentität auf die Spur zu kommen versuchte) –
 
... was ich diesen Gedichten aber heute noch anmerke, und darin sind sie mir nah geblieben, ist der beharrliche Versuch, sich im Medium des Poetischen mit den Bedingungen von Erkenntnis auseinanderzusetzen – ich formuliere das heute oft entschiedener, weil ich tatsächlich das Potential, das sich im Denken von Gedichten entfaltet, für noch ganz unausgeschöpft halte – ein Potential, dessen sich Wissenschaft, Philosophie, Politik kaum bewußt zu sein scheinen, von der allgemeinen Öffentlichkeit gar nicht zu reden (wenn es nicht in aller Mißverständlichkeit als Vermarktungsfaktor auftritt, eingebunden in die Kommunikations- und Unterhaltungsindustrien) – wobei die »Entschiedenheit«, wenn ich sie denn aufbringe, in Reden oder Statements, natürlich nur die eigentliche Triebkraft überdeckt, das Infragestellen, Aufbrechen, Losreißen, abgrundtiefe Zweifeln, das sich von solchen plakativen Formeln nicht in Bewegung setzen läßt –
 
... aber an manchen Stellen finde ich auch in Mental Heat Control schon eine Ahnung dessen, was für mich erst viele Jahre später wirklich an Bedeutung gewonnen hat, sprich: das Gegenteil dessen, was den Titel noch als Denk-Verbot beschäftigt: daß nämlich Denken den ganzen Körper erfaßt, daß Sinn und Sinnlichkeit nicht bloß zufällig in ein paar indoeuropäischen Sprachen so dicht beieinander klingen, und daß wir, wenn wir diese Lebenswelten des »globalen Jetzt« (noch so eine plakative Formel) in irgendeiner Weise begreifen und gestalten wollen – »wollen« ist vielleicht gar nicht die Frage –, sehr weit in den anthropologischen Raum blicken müssen: zu den Grenzen des Rationalen wie den Grenzen der Magie, ihren Überschneidungen im sozialen Gewebe, in den Körpern so vieler verschiedener Gesellschaften, und schließlich, noch weiter, noch unfaßbarer, und doch das Nächste und Gewöhnlichste: der Grenze des Todes –
 
... Frieren, und weiterziehen – manchmal weiß auch ein frühes Gedicht schon etwas ganz Wichtiges –
 
... tja, und das Geschirrtuch: eine inzwischen öfter erzählte Anekdote, die die Autorin (oder Noch-nicht-Autorin) in ihrer Wohnung antrifft, bei der eher selten ausgeübten Tätigkeit des Geschirrspülens, und es klingelt anderthalb Zimmer weiter – oder eher rattert, so ein Standard-Modell der alten Post mit klapprigen Wähltasten, moosgrün – das Telefon, noch nicht schnurlos, die Noch-nicht-Autorin wirft das Geschirrtuch über die Schulter und folgt dem Rattern, hebt ab und findet sich mit der Frage konfrontiert, ob sie denn vielleicht im nächsten Jahr bei Rowohlt einen Gedichtband herausbringen wolle – einen Gedichtband, zu dem noch gar kein Manuskript existierte, nur die ersten ein oder zwei Handvoll dieser versprengten Gedichte; es hat dann auch noch ein gutes Jahr länger gedauert, alles in allem, so daß in der Zwischenzeit die Mauer fiel und plötzlich alles Geschichte wurde, was in den Gedichten noch Gegenwart war, und noch viel historischer klingt ja die Anekdote selbst: aus einer fernen, fernen Zeit des Literaturbetriebs, als die kühnsten Wünsche schon erfüllt wurden, noch ehe jemand sie überhaupt hatte –
 
Brigitte Oleschinskis erster Gedichtband Mental Heat Control erschien 1990 im Rowohlt Verlag in Reinbek.
 
 
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1997 bis 2007 herausgegeben von Renatus Deckert und Birger Dölling · ISSN 1434-8306
© Lose Blätter und Autoren · Letzte Änderung: 26. Oktober 2017