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Paul Brodowsky
Im Schnee
  Heft 26
 
   1
 
Ich bin dazu übergegangen, die Spinnen auf meinen Äckern zu beobachten. Sie müssen sich in den letzten Wochen über Gebühr vermehrt haben, dabei sind es noch zwei Monate bis zum Altweibersommer. Auf dem Kartoffelacker sind ganze Reihen grau von den Netzen, trotzdem ich jeden Tag durch die Felder gehe und mit meinem Stock an Weben herunterreiße, was ich zu fassen kriege. Die Spinnen selbst bekomme ich selten zu Gesicht, sie verkriechen sich zwischen Erdkrumen oder den Blättern. Gänge früh morgens sind da viel versprechend, aber seitdem die Spinnen auch in dem Kirschbaum vor dem Fenster meiner Kammer nisten, ziehe ich abends zusätzlich die Gardinen vor, und an ein frühes Erwachen ist nicht mehr zu denken. Trotz geschlossener Fenster muss ich täglich das Leinzeug wechseln; Morgen für Morgen sind Bett und Haare von den hellgrauen Weben bedeckt.
 
 
   2
 
Schon lange wieder fort sind die schwarzblauen Libellen, sie kamen als erstes. Sie schienen sich für meine Augen zu interessieren und setzten sich minutenlang vor die Pupillen. Inzwischen sind die Ölfliegen da, grünblau und seidig, sie liegen wie eine Kette um meinen Hals. Die Ölfliegen könnten mich beunruhigen, aber ich höre noch deutlich meinen Pulsschlag, klar und regelmäßig. Seit die Ölfliegen da sind, haben die Bremsen aufgehört, sich auf der Haut niederzulassen. Auch ist mir merkwürdig kühl, möglicherweise die Schattenlage, oder ich bin zwischendurch eingeschlafen, aber dafür geht mein Puls zu stark. Der Boden kommt mir weich vor, beinahe warm, wie eine Unterdecke. Jetzt kommen Käfer, die Brust und Arme untersuchen, und auch mit dem Puls bin ich mir nicht mehr sicher. Möglich, dass es nur ein Rauschen der Blätter und Zweige über mir war oder dass ich das dumpfe, regelmäßige Klopfen noch aus Gewohnheit gehört habe.
 
 
   3
 
Der Schnee ist in den Blättern der Bäume, im Lehmboden, im Gras auf dem Hügel. Schnee kann man riechen, heißt es, ich rieche nur das welkende Gras, die Käfer, die Erde. Gestern noch hat der Schnee knietief auf dem Boden gelegen, auf dem winterbraunen Hügel, den kahlen Ästen. Möglich, dass gestern mein Vater unter dem Schnee lag, einer meiner großen Brüder; ich sehe von weitläufigeren Spaziergängen ab und halte mich zwischen Hügel und Waldrand. Gelegentlich lege ich mir einzelne Löwenzahnblätter unter die Zunge, so kann ich mit dem Schnee Kontakt halten; möglich, dass ich morgen im Schnee aufwache.
 
 
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1997 bis 2007 herausgegeben von Renatus Deckert und Birger Dölling · ISSN 1434-8306
© Lose Blätter und Autoren · Letzte Änderung: 26. Oktober 2017