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Ulrike Kaiser
Tiefe
  Heft 22
 
Wir, sagt er, könnten ihn ja auch gar nicht verstehen, schließlich waren wir ja noch nie so ganz tief unten.
   Er also war es.
   Ganz unten.
   Und, wo war er da? Ist er eines Tages aufgewacht, hat er die Augen aufgeschlagen und die Sonnenstrahlen brannten weiße Flecken auf seine Netzhaut, plötzlich waren die Zigaretten alle und der Fernseher kaputt, und selbst die paar Bierflaschen in seiner Küche ließen ihn allein, so dass er sich seine Hände ansah und dachte: was soll ich mit euch nur anfangen, und womöglich grub er sich dann Gedanken um Gedanken tiefer nach unten, bis er bei den Zehenspitzen angelangt war und feststellen musste, da ist nichts.
   Wohl eher so: Nennen wir ihn Robert. Robert hat gerade die Tür einer Kneipe hinter sich geschlossen, die Wärme schlägt ihm gegen die gefrorenen Wangen, der Schnee schmilzt auf seinen Haaren, und da sieht er sie, wie sie am Tisch in der Ecke sitzt, mit irgendjemand, rauchend, da treffen sich ihre Blicke, ihrer ist der, der ausweicht, erschrocken, oder auch nur stolz, und er denkt: eigenartig, diesen Blick kann ich noch immer nicht deuten. Jetzt drückt sie ihre Zigarette aus, obwohl erst halb aufgeraucht, und spricht und sieht ihn nicht mehr an, und diese halb aufgerauchte Zigarette im Aschenbecher reißt ein Loch in die Welt, saugt Robert hinein und so fällt er bis ganz tief nach unten, bis dahin, wo das Fallen nicht mehr aufhören will.
   Oder stellen wir uns vor, Robert liegt in einem Bett, weißes Bettzeug, ein Krankenhaus, ja, und er spürt nichts mehr von seinem Körper, nicht einmal die Angst, die jetzt erst langsam hervorkriecht, lässt seine Muskeln zusammenzucken und alle sagen, riesiges Glück hätte er gehabt überhaupt noch zu leben, das Bittere ist in der Kehle, das spürt er noch bei diesen Worten. Und Luisa, ihr sollten wir schließlich auch einen Namen geben, Luisa sitzt vor ihm und sagt irgend etwas zu den Bäumen vor dem Fenster, entzieht ihm ihren Blick, an dem er sich fest krallen könnte jetzt, glaubt er jedenfalls, und als sie geht, streckt sie ihm zum Abschied die Hand entgegen, doch er weiß nicht, ob es seine Hand überhaupt noch gibt, und da haben wir wieder ihren Blick: erschrocken oder stolz, auch jetzt weiß er ihn nicht zu deuten, und ihre Hand zieht sich zurück und öffnet die Tür, sie sieht ihn nicht mehr an, und jetzt ist es der Türgriff, der von außen bewegt wird von ihrer Hand, der ein Loch reißt in die Welt, in das er hinein fällt bis ganz tief nach unten.
   Aber vielleicht auch ganz anders: nehmen wir Robert mit sechs, wie er vor der Klasse steht in einem Körper aus Zement, von einem Buchstabenregen übergossen, Zeichen, die an ihm abprallen, die er nicht in die richtige Reihenfolge bringen kann, und dieses kleine bisschen Robert, bestehend aus Fußball spielen und »Mein Papa macht, dass die Züge fahren«, dieses Häufchen Ich, das er bis jetzt zusammenkratzen konnte, formt sich zu einem kleinen, harten Ball und fällt werweißwohin, in die Füße wohl, denn die tragen ihn jetzt zurück an seinen Platz, wo ihn das »Naja, das war wohl nichts.« wieder zurückholt von ganz tief unten her und sich nur noch die Lunge anfühlt wie ein Klumpen Zement.
   Er hat recht. Wer kann schon verstehen, wie es war, da unten. Und so trägt er sein Ganz-tief-unten-gewesen-sein vor sich her, dessen einziger Trost es ist, nicht verstanden zu werden, denn was wäre es schon wert, wenn es nicht einmal als Anklage taugte.
 
 
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1997 bis 2007 herausgegeben von Renatus Deckert und Birger Dölling · ISSN 1434-8306
© Lose Blätter und Autoren · Letzte Änderung: 26. Oktober 2017