Lose Blätter. Zeitschrift für Literatur
 

Aktuell

Inhalt
Hefte
Sonderhefte
Autorenregister

Special
Marcel Beyer
Durs Gruenbein
Michel Tournier

Presse

Kontakt

Ines Orsin
März
  Heft 2
 
Lang wird der Tag werden und kalt.
   Seine klammen Finger mühen sich im feuchten Atem des Morgens die Gummistiefel anzuziehen. Schon lange schmerzt sein Rücken und doch bückt er sich, so wie immer, den Rücken lang runter, vorbei an fast durchgedrückten Knien. Und wie immer flucht er beim Wiederaufrichten über seine morschen Knochen.
   Da steht sein Traktor im Hof mit glänzendem Metall und satten Reifen, gegen die er im Vorüberschlurfen fast zärtlich mit dem Fuß stubst. Seit sieben Jahren, und das weiß nur er, ist der Motorblock nicht mehr da. Kein Motor der Welt läßt je diesen Traktor wieder tuckern, beschloß er an dem Tag, als der Acker rund um sein Haus nicht mehr sein Acker war.
   Das schwarz verzottelte Wesen hinter den Zwingerstäben ist Eva. Er hat vergessen, wann Eva zu ihm kam. Jetzt ist sie alt, verwachsen, kann nicht mehr mit ihm durch die Wiesen streifen, wo früher Sumpf und sonst fast nichts war. Mit überschwenglicher Freude begrüßt sie ihn, das herunterhängende Ohr wieder und wieder aufrichtend. Glanz von Kindermurmeln in Evas Augen und der Spiegel seines Gesichtes. Die lahmen Pfoten auf die versabberte Schnauze gelegt harrt sie der Dinge, die da kommen.
   An der Schuppenwand lehnt eine kleine Bank. Seine «Guten Morgen Bank».
   Mit dem Handrücken wischt er Tau vom zerklüfteten Holz und setzt sich langsam, ganz langsam.
   Die Sonne probiert ein wenig Rot, befühlt die Sachen, die auf dem Fensterbrettchen des Schuppens liegen, Dinge aus der Zeit, als das Land noch nicht zweihundert Meter weiter nördlich zu sein aufhörte, sich nicht kampflos den Wellen und dem Wind hingab. Er geht schon lange nicht mehr dorthin, an den Rand der Steilküste, von dem jeden Tag ein Stückchen wegbricht und verweht. Doch er ist verwurzelt mit diesem Land und manchmal spricht er mit den Menschen, die hier lebten – ganz früher – und deren Habe sich auf dem Fensterbrettchen seines Schuppens sammelt. Er hat den Mahlstein von Ahin aufgehoben, der jungen Frau, die schwanger irgendwo im Sumpf gestorben war, dort wo im Mai Raps goldene Hände zur Sonne strecken wird. Er hütet die Faustkeile von Khna, dem blinden Jungen mit den Mandelaugen und die sorgsam gehämmerten Pfeilspitzen des tapferen Jägers, der ihm seinen Namen nicht verrät. Diese Dinge verwahrt er für sie auf, weil er fürchtet, der Pflug des Großbauern könnte die Steine zermalmen und er stände mit leeren Händen da, wenn Ahin, Khna und der furchtlose Jäger zu ihm kämen, um ihre Sachen zurückzufordern.
 
   Der Tag wird lang werden und kalt.
   Und er wird keinen Menschen sehen.
   Vielleicht muß er doch ins Dorf fahren, auf seinem aus den allernotwendigsten Teilen bestehenden Fahrrad. Vom Dorfkonsum, für ihn ist es noch immer der Dorfkonsum, wird er Zigaretten, Brot und Leberwurst holen, viele Zigaretten und für Eva ein paar Dosen, soviele, wie noch in den Beutel passen, den er auf der Rückfahrt über die Lenkerstange hängt.
 
   Am Nachmittag putzt er an seinem Traktor herum. Ein wenig Schmierfett hier, da eine Schraube festgezogen. Ein paar Blätter haben sich unter der Haube verfangen. Eva hat zahnlos das Dosenfutter heruntergewürgt und schläft am Reifen des Traktors. Durch ihr Schwarzfell fegt Märzwind, jung und ungebändigt, jagt herzlos über das flache Land und in seinen Nacken, bis ihm fröstelt. Fluchend über den langen Winter trottet er zur Scheune, in der seine Mütze mit den Ohrenklappen an einer Nagelleiste hängt. Dort hängen auch ein paar Seile, ein maroder Mantel, ein Beutel Wäscheklammern und da hängt auch ihre Kittelschürze und er weiß, niemals könnte er ihre Kittelschürze anfassen, da er durch den geblümten Stoff ins Kalte griffe und weil die Körperlosigkeit ihrer Kittelschürze ihm den Tag zurückbrächte, an dem er morgens neben ihr aufwachte, als er aufwachte und seine Frau tot war. Seine Augen verfangen sich im Blumenmuster des Stoffes. Kreise und Farben drehen sich immer schneller am Scheunentor. Verwirrt sucht er einen Anker für seine Blicke, doch der Strudel reißt die Luft, die er atmen will an sich und seine Gedanken, sein Stöhnen, Evas Fell und seine Stiefel. Die Scheune füllt ein flirrendes, gehetztes Leuchten, in dessen Haltlosigkeit er strauchelt, sich sein Fuß verfängt in einer herumliegenden Drahtrolle und stürzt, gegen das Scheunentor, die Mütze mit den Ohrenklappen fest umklammert. Winselnd leckt Eva seine graugelben Bartstoppeln, bis er zu sich kommt. Ihm schmerzt seine Hand, seine Stirn. Er flucht über das an seiner rauhen Wange herablaufende Blut, wettert, er hole sich in dieser verdammten Scheune noch den Tod. Dankbar klopft er Eva aufs Fell.
   Mondlose, klare Nacht.
   Kein Wind, kein Laut, nur Evas Hecheln und das Schlurfen seiner Schritte über den Kies. Ihn drängt, er läuft los. Das Dunkel drückt ihn zusammen, er durchbricht die Pforte zur Straße. Zweige klopfen auf seinen Kopf, streifen seine Schulter, seine Arme. Die Augen geschlossen, er kennt den Weg, konnte nie klarer sehen, als in dieser Finsternis, in der seine Stiefel schwer werden. Im Laufen streift er sie ab. Leichtfüße tragen ihn davon. Die Mütze mit den Ohrenklappen zerquetscht sein Denken und er schleudert sie fort, in weitem Bogen auf das werdende Rapsfeld. Getragen von der Schwärze um ihn stürmt er den steilen Pfad hinunter zum Meer. Seine Lunge will atmen, die Knöpfe des Hemdes zerspringen, er reißt es von seiner Brust. Seine nackten Füße zertreten sich duckendes Laub.
 
   Unten am Strand strauchelt er über die großen Steine, schlägt sich sein Knie an scharfen salzigen Kanten.
 
   An der Stelle, wo nach allen Richtungen Norden ist, bleibt er stehen, fühlt den Hund zerbrechen an seinem wunden Bein.
 
   Und mit weit aufgerissenen Armen schreit er.
   Eins, mit dem Meer und dem Himmel und der ganzen Welt.
 
 
[Mehr von Ines Orsin? Siehe Register.]
 
 

Ulrike Draesner · Adolf Endler · Wolfgang Hilbig · Silke Scheuermann · Lutz Seiler · Jan Wagner · Peter Weber · Ron Winkler · alle ...

1997 bis 2007 herausgegeben von Renatus Deckert und Birger Dölling · ISSN 1434-8306
© Lose Blätter und Autoren · Letzte Änderung: 26. Oktober 2017